<HTML>Ganz normaler Irrsinn
Wie die Psychiatrie uns alle verrückt macht / Essay des SPIEGEL-Redakteurs Jörg Blech, Spiegel-Spezial Nov. 2003
Wie unterscheidet man einen Verrückten von einem Gesunden? David Rosenhan, Psychologe an der Stanford- Universität in Kalifornien, hat es 1968 ausprobiert, im Selbstversuch: Der damals 40 Jahre alte Forscher wusch sich einige Tage lang nicht und putzte sich auch nicht die Zähne. Er ließ die Bartstoppeln sprießen und trug dreckige Kleidung. Dann vereinbarte er unter falschem Namen einen Termin in einer psychiatrischen Anstalt und ließ sich von seiner Frau vor dem Haupteingang absetzen.
In der Aufnahmestation berichtete Rosenhan den Ärzten von Stimmen, die er gehört haben wollte. Diese seien kaum zu verstehen gewesen, hätten aber gesagt: "leer", "dumpf" und "hohl". Was die Psychiater nicht ahnten: Rosenhan gab mutwillig Symptome vor, die zu keiner einzigen in der Literatur beschriebenen Psychose passten. Das irritierte die Ärzte wenig. Ohne zu zögern verpassten sie dem Forscher die Diagnose: "Schizophrenie in Remission".
In den Folgejahren wurde der Versuch noch einige Male wiederholt. Rosenhan und sieben ebenfalls geistig gesunde Mitstreiter ließen sich unter falschem Namen und mit denselben Symptomen in insgesamt zwölf Nervenkliniken einliefern. Die Regeln des Experiments sahen vor, dass die Scheinpatienten sich anschließend völlig normal und hilfsbereit verhalten sollten; sie befolgten die Regeln des Anstaltslebens und nahmen die verschriebenen Psychopharmaka ein - allerdings nur zum Schein.
Jedes Mal lautete die spannende Frage: Wie lange würde es wohl dauern, bis die Nervenärzte den falschen Kranken entdecken und hochkant aus der Klinik werfen würden? Das Ergebnis: Kein einziger der Scheinpatienten wurde enttarnt, sie wurden im Durchschnitt drei Wochen lang festgehalten und allesamt mit einer psychiatrischen Diagnose entlassen. 2100 Tabletten erhielten die 8 Simulanten. Darunter fanden sich die unterschiedlichsten Präparate - obwohl sie alle das gleiche Symptom vorgespielt hatten. In einer Anstalt wurde Rosenhan sogar 52 Tage festgehalten. "War das eine lange Zeit", erinnert er sich, "ich hatte mich schon richtig an das Anstaltsleben gewöhnt." usw.
Jörg Blech ist Autor des Bestsellers "Die Krankheitserfinder - Wie wir zu Patienten gemacht werden" (S. Fischer Verlag).</HTML>