Ein Beispiel von Zersetzung:
Nordkurier, Müritz-Zeitung vom 08.Juni 2005
Mit "operativer Psychologie" in den Tod getrieben
STASI Mitte der 70er Jahre begann die DDR politische Gegner systematisch zu zersetzen. Nicht jeder überlebte.
VON ANDREAS FROST
SCHWERIN. Einmal fehlten Handtücher, ein anderes Mal waren die Gewürzdosen umgestellt. Wenn die Kinderärztin Karin R. von Reisen zurückkam, bemerkte sie oft kleine Veränderungen in ihrer Wohnung. Sie erzählte Freunden davon, doch die hielten sie langsam für verrückt. Auch im Krankenhaus musste sie sich immer häufiger vor den Patienten von Kollegen kritisieren lassen. Ihre Diagnosen stimmten angeblich nicht. Die Kinderärztin isolierte sich mehr und mehr von ihrer Umwelt, verlor Gewicht und wurde krank.
Für ihr Engagement bei "Frauen für den Frieden" blieb R. keine Zeit und keine Kraft mehr. Das freute die Stasioffiziere 0. und J. Die vielen Sticheleien bis zum Wohnungseinbruch, die in der Summe eine verheerende Wirkung hatten, waren Teil eines "operativen Vorgangs' (OV), mit der die Friedensaktivistin" zersetzt' wurde,
Mit Akribi hatte die Stasi die Schwachpunkte ihres Opfers ausgeforscht. R. war depressiv und reagierte besonders empfindlich, wenn die Privatsphäre ihrer Wohnung verletzt wurde. Dafür studierten Stasi-Mitarbeiter an der Stasi-Hochschule Potsdam-Eiche sogar „operative Psychologie". Die Angriffe kamen aus vielen verschiedenen Richtungen, die Stasi war als Urheber nicht auszumachen. Seit Mitte der 70er Jahre verfolgte die DDR politische Gegner auf die lautlos, perfide Art. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit blieb sie verborgen, und das Ansehen der DDR stieg.
Opfer wurden ohne ersichtlichen Grund im Betrieb degradiert, sie wurden mit anlasslosen
Geschwindigkeitskontrollen überzogen, ihnen wurden Straftaten unterstellt. Die Stasi setzte Gerüchte über angebliche Ehebrüche, Alkoholexzesse, pornographische Interessen oder gar über eine Stasi-Mitarbeit des Opfers in Umlauf. Auch Jugendliche wurden drangsaliert. Als sich der 15-jährige M. in Schwerin gegen Umweitsünden einsetzte, verbot seine Klassenlehrerin unter einem Vorwand seinen Mitschülern, mit M. zu reden. Der fühlte sich bald als „Ausgestoßener". In anderen Fällen hetzten Lehrerinnen Schüler gegen die eigenen Eltern auf, indem sie die Kinder mit dem Hinweis auf den Ausreiseantrag der Eltern von Schulaktivitäten ausschlossen.
Ohne das "politisch operative Zusammenwirken' mit Funktionsträgern, Lehrern, Nachbarn, Betriebsleitern oder Polizisten hätte die Stasi ihre Zersetzungsmaßnahmen kaum durchführen können, sagt Sandra Pingel-Schliemann, die ihre Dissertation zu dem Thema geschrieben hat (Zersetzen - Strategien einer Diktatur). Es waren keineswegs nur IMs, die der Stasi dabei halfen.
Gern versuchte die Stasi auch, die Familien politischer Gegner zu zerstören. So waren die Neubrandenburger Stasi-Offiziere Möller und Suffa beim OV „Wanderer' beteiligt, in dem gegen einen unliebsamen Pastor Fotomontagen gefertigt und an Bushaltestellen und Kaufhallen seiner Gemeinde ausgehängt wurden. Sie zeigten den verheirateten Mann beim Nacktbaden mit einer ins Foto retuschierten Frau. Ein Text suggerierte, dass der Pastor fremdging.
Die Opfer der Zersetzungsmaßnahmen erhalten bis heute keine Entschädigungen. Die Folgen des Psychoterrors sind angeblich nicht eindeutig auf die Stasi-Maßnahmen zurückzuführen. Jörn Mothes, Stasilandesbeauftragter in Mecklenburg-Vorpommern, erinnerte gestern dennoch noch einmal daran, dass die CDU einst eine Ehrenrente für alle Stasi-Opfer gefordert hat. Karin R. würde das nichts nützen. Sie beging 1990 Selbstmord.
